Wirbelsäule und Psyche
im Coaching und im Kommunikationstraining

Der Artikel ist auch in Form einer PDF zu haben.

Was hat die Wirbelsäule mit der Psyche zu tun? Spezifischer: was hat die praktische Arbeit und Auseinandersetzung mit der Wirbelsäule mit Coaching und Kommunikationstraining zu tun?

Beginnen wir mit einem Umweg.
Die aufrechte Haltung hat zweifelsohne die höchst erstaunliche Entwicklung der Gattung Mensch erst möglich gemacht. Oder andersherum: die aufrechte Haltung ist das Handycap, ohne das die Hirnkapazität sich nicht so rasant hätte entwickeln müssen.
Der Mensch hat getauscht: die stabil aufgehängte waagerechte Wirbelsäule der Vierfüßer gegen Grips. Und den müssen wir jetzt benutzen, um mit unserer neuen Situation klarzukommen.

In den letzten paar tausend Jahren ist unser Leben exponentiell bequemer geworden. Seit einigen Jahrzehnten “versitzt” ein Großteil der Menschen ihr Leben, die Wirbelsäule wird nicht mehr bewegt, die Muskeln schmelzen oder werden erst garnicht aufgebaut, und zuguterletzt soll das Ganze auch noch möglichst 90 Jahre halten, statt der ursprünglich vorgesehenen 30 bis 40.

Aber selbst wenn man von Zivilisationsschäden absieht, hat die senkrecht getragene Wirbelsäule es nicht leicht. Denn einerseits darf sie nicht steif sein, sie muß federn, um beim Gehen das teure Gehirn schonend zu transportieren. Andererseits bietet jeder Wirbel, der nicht genau senkrecht über dem anderen gelagert, ist der Schwerkraft eine Angriffsfläche und muß mit Muskelkraft in seiner Position festgehalten werden.

Die Lösung ist ein Kompromiss und der lautet: Die Wirbelsäule sei so gestreckt und senkrecht  wie möglich – das spart Muskelkraft und verhindert Verspannungen (ein verspannter Muskel ist nichts als ein verzweifelter Muskel) und so gebogen wie nötig – um das Rechenzentrum im Kopf weitgehend vor Transportstößen zu schützen.
Wir brauchen also eine sanft geschwungene Wirbelsäule mit einer kräftigen und gut gelaunten Muskelverpackung.

Die Praxis sieht meistens anders aus.
Beobachten Sie bei sich (oder anderen) nur einmal, wie sehr die Hals- bzw. Nackenpartie von der Senkrechten abweicht. Nehmen Sie einen 2,5-kg-Beutel Kartoffeln und tragen Sie ihn am ebenso schräg nach vorn/oben gestreckten Arm. Vielleicht tut Ihnen dann Ihr Nacken leid, der den Kopf Tag aus Tag ein so tragen muß. (Okay, die Hebelwirkung ist am Arm viel größer, weil selbiger viel länger ist als der Hals, dafür ist ein Kopf viel schwerer als ein Kartoffelbeutel, nämlich 4 bis 5 kg.)
Wir bleiben bei unserem Beispiel vom Nacken, der sich am Kopf verhebt, und fragen: was für Auswirkung hat denn so eine Fehlbelastung?
Zunächst einmal eine physische: der Nacken kann sich nicht entspannen, die Muskeln verhärten sich, verkrampfen, diese Krämpfe wirken sich bis in den Kopf aus, Migräne entsteht. Kopfschmerzen aller Art sind der guten Laune nicht förderlich, und schon ist die Psyche involviert: man mault seine Untergebenen an und plant einen Giftmord am Chef.

Für uns, lieber Leser, noch weit interessanter ist jedoch der zweite Weg vom Nacken zur Psyche: So eine Fehlhaltung ist nämlich auch von außen zu sehen und ähnelt dort zum Verwechseln einem wichtigen Kommunikationsmittel des Menschen: der Körpersprache.
Ein gewohnheitsmäßig gebeugter Nacken sieht nämlich aus, als würde sein Besitzer sich klein machen wollen, als wäre er traurig oder unzufrieden; die mit der Verkrampfung einhergehenden hochgezogenen Schultern können Schuldbewußtsein oder Agressivität kommunizieren. Und das, obwohl der Betreffende – abgesehn von den Kopfschmerzen – eigentlich gut drauf ist.

Und da sitzt, im Detail, der nächste Teufel: Genau wie man irgendwie fröhlicher wird, wenn man lächelt, prägt eine Körperhaltung, die eigentlich für schlechte Stimmung vorbehalten ist, im Laufe der Zeit unserer Psyche ihren Inhalt auf. Man sieht aus, als wär man missgestimmt, die anderen behandeln einen, als wär man missgestimmt. Und irgendwann fühlt man sich auch, wie man aussieht.

Und nun zurück zur Ausgangsfrage: was hat die praktische Arbeit und Auseinandersetzung mit der Wirbelsäule mit Coaching und Kommunikationstraining zu
tun?

Okay, Körper und Psyche hängen zusammen, ein Gemeinplatz. Demnach sollte aber auch ein Motivationsschub (erfolgreiches Coaching, neue innere Einstellung, ect.) den Körper einfach mitreißen und automatisch eine “bessere” Körperhaltung erzeugen, nach dem Motto: geht’s der Psyche gut, geht’s dem Körper gut. Aber so einfach ist es leider nicht. Denn  beide, Körper und Psyche, hängen eben auch in bestimmten Mustern fest, bzw fallen gern in Ihre Gewohnheiten zurück.

Muster und Gewohnheiten sind nun beileibe nichts Schlechtes, kein Mensch kommt ohne Muster aus, im Gegenteil. Sie könnten keinen einzigen Schritt machen, keinen Teebeutel in die Kanne tun, geschweige denn über die Straße gehen oder gar Auto fahren, wenn all diese alltäglichen Aktionen nicht als feste Muster gespeichert wären.
Nur weil sie als Muster festliegen, können sie im Autopilot-Modus funktionieren. Muster sind Grundlage aller Überlebensfähigkeit und bei jedem ein bisschen anders gestrickt. Muster äußern sich dem entsprechend als charakteristische Bewegungen (die individuelle Art zu gehen z.B.) und als charakteristische Haltungen.

Festzuhalten bleibt: das permanente Wechselspiel zwischen Körper und Psyche hat einen Gegenspieler in der Stabilität der Muster. Das kann sich fördernd und positiv auswirken, wenn jemand z.B. einen Einbruch auf der körperlichen Seite (Bein gebrochen) aufgrund psychischer Stabilität gut verkraftet und schnell bewältigt. Das kann sich hemmend auswirken, wenn jemand eine psychische Erleichterung (einen Motivationsschub, die Resutate eines Coachings) nicht genügend integrieren, genießen, stabilisieren kann, weil die körperliche Seite in ihren alten Mustern festhängt.

Erinnern wir uns nochmal an die verkrampfte Nackenmuskulatur, die sich eben nicht allein durch eine motivierte Psyche lösen wird, sondern – viel wahrscheinlicher – langsam aber sicher die Motivation wieder untergräbt. Alteingesessene Haltungs- und Bewegungsmuster geben nicht freiwillig und von selber auf.

Hier ist die bewußte Ebene gefragt: wahrnehmen, beobachten, analysieren. Nur das kann dem Körper auf die Sprünge helfen. Der Körper braucht bewußte Unterstützung, um sich neue, adäquate Haltungs-/Verhaltens-/Bewegungsmuster anzuschaffen.
Und – nun schließt sich der Kreis wieder – da kommen wir an der Wirbelsäule nicht vorbei. In 80% der Fälle steht im Zentrum der körperlichen Neuprogrammierung die Wirbelsäule, weil sie auch das Zentrum all der Verhaltensmuster ist, mit denen unser Autopilot arbeitet.
Von der Wirbelsäule und ihrer Umgebungsmuskulatur gehen alle relevanten Impulse aus; alle Gestik, ja selbst die Mimik ist an dieses Zentrum angeschlossen.

Die Arbeit mit der Wirbelsäule baut sich über folgende Schritte auf:

– Beweglichkeit sämtlicher Wirbelgelenke erweitern,
– Wahrnehmung entwickeln,
– muskuläre Dysbalancen ausgleichen,
– bessere Haltungs- und Bewegungsmuster installieren.

Das ganze ist bis zu “Fertigstellung” ein längerer Prozess, der sich aber in relativ kurzer Zeit anschieben und gut in Eigenregie fortsetzen läßt. Es ist eben doch von Vorteil,
Mitglied einer aufrecht gehenden Spezies mit einem (fast) stoßfrei gelagerten Gehirn zu sein.
Berlin, im Januar 2012